Erfahrungen im Dieburger Modell

Der Ausgangspunkt für unsere Konzeption war ein Angebot des Vertriebszentrums Rhein Main der Volkswagen Original Teile Logistik GmbH & Co. KG (VW OTLG). Ein Betrieb mit ca. 400 Beschäftigten, über 60.000 qm Lagerfläche für Ersatz- und Zubehörteile von VW und Audi. Wir konnten und sollten versuchen, psychisch kranke Menschen individuell in verschiedenen Betriebsabteilungen (Wareneingang, Kommissionierung, Bereitstellung usw.) an Tätigkeiten heranzuführen. Dabei war die quantitative Leistung zunächst unerheblich.
Wir begannen mit 8 Plätzen, die dann auf 15 und schließlich auf 20 aufgestockt wurden, betreut von einer Gruppenleitung, mit Sitz in der Firma.

 

Unser konzeptionelles Ideal war die rein externe Betreuung - orientiert am Prinzip der beruflichen "Normalisierung". Es gab keine Auswahl "geeigneter" Klienten.[1] Als Grafik:
 

1. Direkter Eintritt in die Firma ...

 

 externe Arbeitsgruppe A-Vertrag

 

"A-Vertrag" = Arbeitsvertrag, in den die Reha-Maßnahme münden soll
"extern" = in der Normalität, aber noch im Sprachraum der Sonderwelt

 
Wir benötigten eine "Auffanggruppe", um Krisen abzufangen. Eine konventionelle Werkstatt entstand, die ein "Kennenlern-Angebot" bei Neuaufnahme vorsah. In der Praxis erfolgten Neuaufnahmen meist in diesen "internen Bereich". Damit ließ sich der beste Zeitpunkt für den Übertritt in die Trainingsfirma einfacher wählen, z.B. abhängig von der Arbeits- und Personalsituation. Später standen dann auch noch verschiedene externe Arbeitsgruppen zur Auswahl.[2]
 

2. Firmenarbeitsplatz kombiniert mit Auffanggruppe ...

 

intern externe AG   Auffang-Gr. externe AG  ??

 

"intern" = konventionelle Werkstatt (interner Bereich)
"Auffang-Gr." = Auffanggruppe im internen Bereich

 

Ein langfristiger Aufenthalt in einer externen Arbeitsgruppe führt dazu, dass die Rehabilitanden dort "festwachsen".[3] Darum haben wir Praktika außerhalb dieser Gruppen (also auf externen Einzelarbeitsplätzen) zum obligatorischen Teil des Berufsbildungsangebotes gemacht.

Wir benötigten ca. 10 Jahre, um zu diesem Verlaufs-Modell (3) zu kommen. Als Grafik:
 

3. Firmenarbeitsplatz kombiniert mit Praktika ...

 

intern externe AG   Auffang-Gr. externe AG  Praktikum externe AG 
Alternative Abschlüsse:  intern 
  Praktikum  BIB
  Praktikum A-Vertrag

 

"BIB" = Betriebsintegrierter Beschäftigungsplatz im Sinne von § 219 Abs. 1 Satz 6 SGB IX

 

Das Diagramm auf der nächste Seite zeigt die tatsächlichen Reha-Verläufe über 4 Jahre, für alle Rehabilitanden mit schizophrenen Störungen (94 Personen).

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[1]

Die "Eignungsdiagnostik (mittels) anerkannter und zielgruppengerechter Methoden" wird seit 2011 vom Kostenträgers im Eingangsverfahren vorgeschrieben, gemäß HEGA 2010, Punkt 4.1.

Gerhard Längle (Leiter der Tübinger Forschungsgruppe Sozialpsychiatrie) resümiert eine seiner empirischen Arbeiten folgendermaßen: "Insgesamt gilt [...], dass eine Prognose der beruflichen Integration für Gruppen von Patienten kaum möglich ist und die Orientierung am Einzelfall und dessen engmaschige Begleitung am ehesten Gewähr für einen optimalen, d.h. den Bedürfnissen des Patienten angepassten, Rehabilitationsverlauf (...) bietet." (Längle 2002, S. 97)

Thomas Reker schreibt: "Die Verhaltensbeobachtung im realistischen Setting, also ... am Arbeitsplatz etc., liefert die besten und zuverlässigsten Informationen über Fähigkeiten bzw. ihre Einschränkung" (Reker 2004, S. 58).

Ich plädiere dafür, formelle Eignungstests fallen zu lassen. Sie

kosten Ressourcen,
verstärken die negative Erfahrung der Auslese, die unsere Klienten schon vor der Aufnahme in die Werkstatt durchlaufen,
suggerieren Objektivität von Handicaps,
blenden soziale Prozesse aus,
demotivieren und
bestätigen nur sich selbst.
Wie Menschen zueinander passen, müssen diese selbst entscheiden. Hierzu Fallbeispiele C und D.

Im Tagesgeschäft sind wir allerdings verantwortlich dafür, Risken zu beurteilen und abzufangen - Risiken, die z.B. auftreten in psychotischen Akutphasen oder aufgrund der Nebenwirkungen von Medikamenten.

Statt zu selektieren sollten Werkstätten neugierig machen, Ängste abbauen, motivieren und vielfältige auch niederschwellige externe berufliche Arrangements anbieten.

[2]

VW OTLG in Dieburg, Messer Cutting Systems in Groß Umstadt, das Studentenwerk auf dem Dieburger Campus, Cosnova Logistics in Großostheim und unser Werkstattladen UNIKAT.

[3]

"Vielen seelisch behinderten Menschen fällt es schwer, die ihnen bekannten sozialen Orte zu verlassen. Andere müsse dazu verführt werden, etwas Neues zu probieren." (Peukert 2004, S.5)