Alltagswelt als Problemfeld

Das Qualifikationsniveau bleibt statistisch zwar deutlich hinter dem Durchschnitt zurück. Die "passende" berufliche Qualifizierung ist aber offenbar nicht das Kernproblem der Klientel. Sie ist kein primäres Handicap.[1]

Demnach sind die üblichen Qualifikationsangebote der Werkstätten keineswegs obsolet. Einen Kurs besuchen zu dürfen, bedeutet Anerkennung. Qualifikation ist ein Vorteil. Den Kern des Problemfeldes erreichen Kursangebote jedoch nicht.

Wenn zu einer guten Qualifikation auch noch eine nachgewiesene praktische Leistungsfähigkeit hinzukommt, dann spitzt sich die Frage nach der Lokalisierung des Problemfeldes weiter zu.

Fallbeispiel: Paul kam Anfang der 1990er Jahre im Alter von 33 Jahren zu uns, mit der Diagnose einer schizo-affektiven Psychose. Der Erkrankungsbeginn lag 14 Jahre zurück. In diesen 14 Jahren war es zu mehreren stationären Psychiatrieaufenthalten gekommen. 4 Jahre vor der Aufnahme hatte Paul einen schweren Suizidversuch unternommen. Ab dem Zeitpunkt der Aufnahme haben wir keine Akutsymptomatik bei ihm mehr wahrgenommen. Paul war gut auf Haldol Decanoat eingestellt. Ein Depot-Medikament.

Paul hatte die Mittlere Reife erreicht und eine Ausbildung zum Anwaltsgehilfen abgeschlossen, trotz seiner Erkrankung. Er hatte jedoch keine Berufserfahrung.

Paul errang über einen Zeitraum von 15 Jahren vor und noch während der Teilnahme an unserer Reha-Maßnahme mehrere Meistertitel (deutsche, europäische und Weltmeistertitel) - und zwar mit einer umfangreichen Kleintierzucht. Paul hatte sich für diese Zucht Kenntnisse angeeignet in der Pflege, Behandlung, Ernährung, Vererbung und Beurteilung dieser Tiere. Und er hat vor allem sehr viel Arbeit in sein Hobby gesteckt.

Offenbar unterschied sich die Organisation dieser Arbeitsleistung von der eines erwerbstätigen Menschen. Arbeit ist nicht gleich Arbeit. Das Fallbeispiel deutet darauf hin, dass es spezielle Anforderungen der erwerbsförmigen, abhängigen, kooperativen Arbeit gibt, an denen schizophren erkrankte Menschen typischerweise scheitern können. Soweit das Fallbeispiel.

Wenn man in Vorstellungsgesprächen[2] nach den beruflichen Handicaps fragt, kommt am häufigsten die Antwort, dass die Belastungsfähigkeit eingeschränkt ist. Gute Arbeitsqualität trauen sich die Interessenten hingegen zu. Der "Smalltalk" wird oft als Problem am Arbeitsplatz genannt.[3] Und, wenn man danach fragt, dann wird nicht die "Arbeit", sondern die "Arbeitswelt" ausdrücklich als das Hauptproblem identifiziert. Ich halte daher folgenden Punkt fest:

Bei Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis ist die Ausführung von Arbeitsschritten oder von komplexen Arbeitsprozessen typischerweise nur in den Akutphasen beeinträchtigt. Das Problemfeld, das von einer wirksamen Reha-Maßnahme erschlossen werden muss, ist nicht die Arbeit, sondern die Arbeitswelt.

Dabei ist die Arbeitswelt nicht einfach ein Feld mit definierbaren Überforderungen.

Eingliederungsprobleme manifestieren oder "konstituieren" sich erst in der beruflichen Umwelt.[4]

Zusätzlich gibt es einen Rückkopplungseffekt: Soziale Ausschließung ist einer der stärksten Stressoren - ein krankmachender Faktor.

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[1]

Der Erkrankungsbeginn fällt oft in die Zeit der Berufsausbildung und verhindert deren Abschluss. Und die vorhandene formale Qualifikation ist in der Praxis oft nicht abrufbar. Der Rehabilitand benötigte in diesem Fall keinen qualifizierenden Kurs, sondern eher die Fähigkeit, seine Qualifikation anzuwenden (und vielleicht sogar selbst weiterzugeben z.B. in einem PC-Kurs für den nicht-EDV-affinen Teil des Personals).

In einer Firma haben wir tatsächlich einen Rehabilitanden, der neue Firmenmitarbeiter anleitet und anlernt. Unsere Rehabilitanden in den Firmen mit "virtuellen" Gruppen sind nicht unbedingt als solche erkennbar, gerade für neue Mitarbeiter.

[2]

Ich habe in 25 Jahren ca. 200 Erstgespräche geführt, einen beträchtlichen Teil davon in unserm Firmen-Büro, d.h. in der VW OTLG. Es ist klar, dass dem Erstgespräch eine Schlüsselrolle zukommt und dass die Gesprächssituation dabei eine nicht unerhebliche Bedeutung hat.

[3]

Diese schildern z.B. auch Hack und Angermeyer 1979 S.38
Die Angst vor dem Smalltalk hat vielleicht etwas zu tun mit dem wahrgenommenen Verlust der Fähigkeit situativ angemessen reagieren zu können.

[4]

Ähnlich argumentiert Reinhard Peukert in seinem wegweisenden Vortrag auf dem Fachtag der Hessischen Reha-Werkstätten 2004: "Ob eine Anforderung ein Förderfaktor (F) oder eine Barriere (B) ist, entscheidet sich an den verfügbaren Ressourcen (R). Daher können F und B nicht in epidemiologischen Untersuchungen, sondern nur in der konkreten Lebenswelt der Menschen (LW) gefunden werden {(R) LW} und auch nur dort beeinflusst werden. (...) wir erkennen die besondere Bedeutung der Lebenswelt, der nicht-veranstalteten, zumindest der nur mäßig veranstalteten Zeit, die Bedeutung des eher Alltäglichen für die persönlichkeitsbildenden - und das sind im psychiatrischen Feld zugleich die salutogenen - Prozesse. (Peukert 2004, S. 2f)