Zur Begründung einer Maßzahl
Nach der Veröffentlichung zu den Vermittlungsquoten im Online-Magazin Klarer Kurs vom 7. Mai 2024 (Saal 2024) gab es eine Rückmeldung, die Anlass gibt, meinen Vorschlag zur Berechnung der Quote deutlicher zu begründen und darzustellen.
In Publikationen über Werkstätten werden erfolgreiche Übergänge in reguläre Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisse als „Vermittlungen“ bezeichnet. Angaben über die sogenannten „Vermittlungsquoten“ liegen in verschiedenen Publikationen teilweise weit auseinander. Sie reichen:
von | 0,025 Prozent nach einer Berechnung von Hüppe (2021: 43) |
über | 0,315 Prozent[1] im Forschungsbericht 262 des BMAS (2023: 38, 117) |
bis | 5 Prozent (Hessen) nach meinem Berechnungsvorschlag |
Die Gründe für diese Unterschiede liegen in den verschiedenen Berechnungswegen, bei meinem Weg möglicherweise auch in der besonderen Leistung der vermittelnden Dienste in Hessen, die die Datengrundlage meiner Angaben bilden.
Die Vermittlungsquote verstehe ich als Maßzahl für die Wahrscheinlichkeit, mit der die Klient*innen das Werkstatt-Angebot erfolgreich durchlaufen und eine Vermittlung in Arbeit oder Ausbildung gelingt. Wie lange eine Person hierfür im Durchschnitt benötigt, wäre ein Parameter, mit dem die Vermittlungsquote differenziert werden könnte. Die beruflichen Erfolgschancen sind für Menschen relevant, die den Weg in eine Werkstatt prüfen und ggf. einen Aufnahmeantrag stellen.
Selbst in wissenschaftlich fundierten Teilhabe-Diskursen werden „Vermittlungsquoten“ zitiert, die unhinterfragt aus der Belegung der Werkstätten ermittelt werden, wie beispielsweise im genannten Forschungsbericht 262 des BMAS 2023. Den Nenner dieser Quote bildet die Zahl der Klient*innen, die jeweilige Werkstätten besuchen. Der Bezug auf die Belegungszahlen bleibt jedoch unbegründet. Ebenso der Bezug auf die divergenten Zeitvariablen: Während sich die Belegungszahlen im Arbeitsbereich über Jahrzehnte entwickelt haben, werden die Vermittlungszahlen jährlich erhoben und in die „Vermittlungsquote“ eingerechnet. Mit dieser „Vermittlungsquote“ werden die Teilhabe-Diskurse unbemerkt aus der Perspektive der Kostenträger bedient: nämlich mit Blick auf die Entwicklung der Belegung (bzw. ihr Abschmelzen).
Die Daten aus dem Forschungsbericht 262 des BMAS (2023) zeigen, dass der zeitliche Rahmen von Berufsbildungsangeboten in Werkstätten oft zu eng ist, um zu Vermittlungserfolgen zu gelangen: Sie sind in vielen (den meisten) Fällen erst (weit) nach Abschluss des zweijährigen „Berufsbildungsbereiches“ erreichbar. Im „Dieburger Modell“ (1987-2011) beobachteten wir eine Teilnahmedauer von durchschnittlich 30 Monaten – vom Tag der Aufnahme bis zum Übertritt in ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis (Saal 2018: 14).
Die „Vermittlungsquote“ von Hüppe – früherer Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen – bezieht sich gar nicht erst auf Vermittlungen. Hüppe beschränkt den Zähler seiner Quote auf die (an die Bundesagentur für Arbeit gemeldete) Belegung von Pflichtplätzen für schwerbehinderte Menschen (zur Kritik: Saal 2024).
Klientelbezogene Verlaufsdaten, an denen sich berufliche Erfolgschancen ablesen lassen, sind nur punktuell (nicht repräsentativ) verfügbar. Ersatzweise bietet aber der Vergleich der jährlichen Aufnahmen mit den jährlichen Vermittlungen eine Annäherung an Verlaufsergebnisse. Folgendes Modell veranschaulicht dieses Verständnis der Vermittlungsquote, die unabhängig von der Belegung der Werkstätten in den verschiedenen Bereichen ist.
Grafik [1]
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Legende:
EV | = | Eingangsverfahren (Dauer im Regelfall 3 Monate), |
BBB | = | Berufsbildungsbereich (im Regelfall 24 Monate), |
AB | = | Arbeitsbereich (ggf. bis zur Berentung) |
N | = | Zahl der jährlichen Aufnahmen (Nenner) |
Z | = | Zahl der jährlichen Vermittlungen (Zähler) |
Für Hessen liegen Daten vor, die eine Schätzung der Vermittlungsquote erlauben.
Z (die Zahl der jährlichen Vermittlungen) ist aus den Daten des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen bekannt. Im elfjährigen Zeitraum von 2012 bis 2022 wurden durchschnittlich 44 Personen „vermittelt“ – ohne erkennbaren Trend.
N (die Zahl der jährlichen Aufnahmen) kann nur geschätzt werden. Meiner Schätzung von N liegen folgende Überlegungen zugrunde: Die Belegung von EV plus BBB ist für den Zeitraum von 2012 bis 2022 bekannt: In Hessen betrug die durchschnittliche Belegung 1963 Personen. Vorausgesetzt EV plus BBB beanspruchen 27 Monate, müssten rechnerisch jährlich 872,4 Personen aufgenommen werden: 1963 Personen / 27 Monate x 12 Monate.
Folgendes Modell soll den Rechenweg anschaulich machen. Das Modell zeigt nicht die tatsächliche Belegung: Das gilt schon für den Zeitpunkt der Aufnahme, der in der Tabelle auf den 1. Sept. gelegt wurde. Für das Ergebnis der Berechnung spielt der Aufnahmezeitpunkt keine Rolle. Im Bereich für geistig behinderte Menschen ist das der übliche Aufnahmetermin. Das dreimonatige Eingangsverfahren endet am 30. November. Zum 1. Dezember treten die Klient*innen aus dem EV in den BBB über. Klienten aus dem ersten Jahr (BBB 1) wechseln ins zweite Jahr (BBB 2). Und die Klient*innen aus dem zweiten Jahr (BBB 2) wechseln in den AB. Über drei Monate sind EV und BBB größer als für die restlichen 9 Monate. Die monatliche Belegung ist grundsätzlich nicht konstant. Sie kann größer oder kleiner als die Durchschnittsbelegung sein. Natürlich ist die Belegung in der Realität niemals so gleichförmig. Das Modell soll nur erklären, wie aus einem Mittelwert (1963 Personen) die Aufnahmezahl (872,4 Personen) errechnet wurde.
Berechnungsmodell [2]
Monat | Auf- nahmen |
EV | BBB 1 | BBB 2 | Summe EV + BBB |
Übertritt in den AB |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
2 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
3 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
4 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
5 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
6 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
7 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
8 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | |||
9 | +872,4 | 872,4 | 872,4 | 872,4 | 2617,3 | |
10 | 872,4 | 872,4 | 872,4 | 2617,3 | ||
11 | 872,4 | 872,4 | 872,4 | 2617,3 | ||
12 | 872,4 | 872,4 | 1744,9 | -872,4 |
||
Mittelwert: | 1963,0 |
Die tatsächliche Zahl der Aufnahmen wird etwas höher sein als in diesem Berechnungsmodell angegeben, weil es einen unbekannten Anteil atypischer Verläufe gibt: (1.) Einzelne Klienten gelangen schneller, nicht erst nach 27 Monaten, in den AB. Das gilt z.B. für Klient*innen mit verkürzter Kostenzusage. Und (2.) vor allem in den ersten Monaten gibt es eine erhöhte Teilnehmer-Fluktuation (Abbrüche oder Unterbrechungen). Selbst wenn man annimmt, dass jährlich 200 Personen mehr in die hessischen Werkstätten aufgenommen würden, wird die Quote nicht unter vier Prozent rutschen und schon gar nicht unter ein Prozent, wie vielfach behauptet.
Die Aufnahmezahlen waren vor 2012 höher. Für den Zeitraum von 2009 bis 2011 ergibt sich aus den Daten der BAG-WfbM eine durchschnittliche Belegung von EV + BBB mit 2036 Personen. Die Datenbasis für die Berechnung der Quote ist trotzdem solide. Sie umfasst elf Jahre. Schon nach der Hälfte dieser Zeit dürfte sich die Zahl der „Altfälle“ in der Vermittlungsquote erheblich reduzieren.
Hier die Daten zur Berechnung der jährlichen Vermittlungsquoten in Hessen:
Aufstellung [3]
Jahr | ∅ Belegung von EV + BBB |
Aufnahmen: (Sp 2) * 12 / 27 |
Vermitt- lungen |
in % |
---|---|---|---|---|
(1) | (2) | (3) | (4) | (5) |
2009 | 2.034 | 904 | ||
2010 | 2.018 | 897 | ||
2011 | 2.056 | 914 | ||
2012 | 1.981 | 880 | 37 | 4 % |
2013 | 2.013 | 895 | 48 | 5 % |
2014 | 2.017 | 896 | 44 | 5 % |
2015 | 2.008 | 892 | 49 | 5 % |
2016 | 2.131 | 947 | 34 | 4 % |
2017 | 2.230 | 991 | 45 | 5 % |
2018 | 2.122 | 943 | 54 | 6 % |
2019 | 1.973 | 877 | 42 | 5 % |
2020 | 1.922 | 854 | 39 | 5 % |
2021 | 1.645 | 731 | 43 | 6 % |
2022 | 1.556 | 692 | 49 | 7 % |
2023 | 1.678 | 746 | 46 | 6 % |
Datenquelle für Spalte 2:
BAG-WfbM: Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen, „Anzahl der Mitgliedswerkstätten und belegten Plätze nach Bundesländern“. (Online unter: www.bagwfbm.de/category/34, Link geprüft am: 05.12.2024)
Datenquelle für Spalte 4:
Statistik des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, FB 201, präsentiert zur Tagung der „Fachkräfte für berufliche Integration“, LAG:WfbM Hessen, 11-2024 (unveröffentlicht). Für den Zeitraum von 2009 bis 2011 liegen mir keine Daten vor.
BMAS, 2023: Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Engels, D. / Deremetz, A. / Schütz, H. / Eibelshäuser, S. / Pracht, A. / Welti, F. / von Drygalski, C.: Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Abschlussbericht. Forschungsbericht 626, Berlin 2023. (Online unter: www.bmas.de/
Hüppe, H., 2021: »Werkstätten« im Konflikt mit dem Grundgesetz. In: Greving, H. / Scheibner, U. (Hg.), Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Stuttgart 2021, 36-64
Saal, R., 2018: Rehabilitation in der beruflichen Alltagswelt für Menschen mit psychischer Erkrankung: Kapitel „Verläufe“. (Online unter: www.denksaal.de/
Saal, R., 2024: Vermittlungsquoten der Werkstätten: Berechnungen sind nur bedingt aussagekräftig. In: KLARER KURS – Das Online-Magazin für berufliche Teilhabe, 7. Mai 2024. 53° NORD Agentur und Verlag. (Online unter: www.53grad-nord.com/klarer-kurs/artikel/vermittlungsquoten-der-werkstaetten; Link geprüft am: 05.12.2024)
Zu dieser Quote kommt man, wenn man die angegebenen Daten aller Werkstattbereiche (EV + BBB + AB) zusammenrechnet.