Exkurs: "Sonderwelt" der Werkstatt

Auch Werkstätten bieten eine Alltagswelt[1] mit verschiedenen sozialen Rollen:

Die berufliche Qualifizierung kann nach dem Verhältnis Ausbilder - Lehrling (oder Lehrer - Schüler / Schulungsteilnehmer) verstanden werden.
Die Zusammenarbeit basiert auf "kollegialen" Rollen (Vorarbeiter - Hilfsarbeiter), im Rahmen eines modifizierten Arbeitnehmer - Arbeitgeber Verhältnisses.

Wie das erstmalige Erlernen einer Rolle, ist auch die Wiederaneignung von Rollenkompetenzen, die in einer psychischen Krise verloren gehen, im Wesentlichen ein informeller Prozess, eingebettet in die alltägliche Interaktion, durch Lernen an Vorbildern, weithin unbewusst.

Die Werkstatt kann und muss für die Wiederaneignung sozialer Rollen einerseits größere Spielräume bereithalten als die normale Arbeitswelt, die ebenfalls "berufliche Sozialisation" leistet: Die formellen Disziplinierungsmöglichkeiten der Werkstatt sind eingeschränkt.

Punktuell können Sozialisationsleistungen als "Training" ausdifferenziert werden: mit Angeboten zur Persönlichkeitsförderung und Reifung, zum Erlernen sozialer Strategien (Coping) oder zur Befähigung für eine besondere Arbeit (z.B. Telefondienst):

Ein solches Training der Rollenperformanz basiert selbst auf einem Rollen-Verhältnis, dem von Coach und Klient (als Rehabilitand, Job-Aspirant, ...).

 

Die Rollen des Lehrers, Vorarbeiters und Coachs verschmelzen in Werkstätten zu einer "Unterstützer"-Rolle. Und die Autorität des Unterstützers hat nicht nur eine fachliche Basis, sondern auch eine disziplinarische. In der Werkstatt ist die Trennung von Personal und Klienten deckungsgleich mit diesem fachlich-disziplinarischen Autoritätsgefälle. Und die Trennung setzt sich auf der informellen Ebene fort. Die informelle Zusammenarbeit gelingt eher dem Personal und stärkt dessen Position, nach oben und nach unten. Anders als in normalen Firmen wird die formelle Hierarchie in der Werkstatt (die zwischen Personal und Klienten) durch die informelle Organisation noch verstärkt.[2]

Die Ausbildung sozialer Rollen in der "Sonderwelt" der Werkstatt wäre ein eigenes Vortragsthema. Eine brillante Beschreibung institutioneller Alltagswelten möchte ich Ihnen zur Lektüre empfehlen: Erving Goffman, Asyle.[3]

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[1]

Zink (2004 S.3) schreibt: "Für viele ist die Werkstatt in ihrer jetzigen Ausprägung wesentlich mehr als nur ein Arbeitsplatz, sondern ein darüber hinaus gehender 'Lebensraum', in dem sie ohne Diskriminierung mit Menschen, die sich in einer vergleichbaren Lebenssituation befinden, kommunizieren und zusammenleben können."
Was Zink hier beschreibt, ist tatsächlich kein exklusives Merkmal von Werkstätten: Denn Diskriminierung ist weder 'extern' universell noch 'intern' aufgehoben. Und der berufliche Abstieg in die Werkstatt kann selbst schon diskriminierend sein. Im Übrigen wird man eine heterogenere Belegschaft als die der Reha-Werkstätten in "normalen" Firmen nicht oft finden.

[2]

Die sozialen Distanzverhältnisse sind intern und extern verschieden. Hierzu Stichworte:

Intern können Klienten ausgeschlossen sein z.B. vom Pausenraum, vom Speisetisch, von den Toiletten des Personals. Extern sind sie Personal.
Intern unterliegen alle Klienten der Aufsichtspflicht. Und extern? ... haben sie mitunter Schlüsselgewalt.
Intern verstehen sich die psychisch kranken "Klienten" typischerweise als "Rehabilitanden". Extern verstehen sie sich als Mitarbeiter der Firma XY.
Intern gibt es praktisch keine Aufstiegsmöglichkeit ins Personal. Liebesbeziehungen über die Grenze hinweg sind ein Kündigungsgrund. Extern ist das anders...

Exponierte Projekte sind ständig mit dem Zwang zum Umdenken konfrontiert, vor allem, wenn sie an eine "Mutter-WfbM" angebunden bleiben. Aus deren Sicht erscheinen jene fortgesetzt als querulantisch.

[3]

Siehe Goffman 1973
Auch Asmus Finzen (www.finzen.de), Reformpsychiater, regt an, Goffmans Ansatz wiederzubeleben; hierzu insbesondere Finzen 2009 S. 126 ff

Reinhard Peukert (2004, S. 6f) weist darauf hin, wie sehr die Selbstdarstellung der Werkstätten von der Sonderwelt-Perspektive geprägt ist: "Bei der Begründung für diese Angebote und deren Finanzierung sollten wir mutiger sein, und deren unmittelbaren Wert hervorheben - und uns nicht in die welt-verdoppelnde Sprache des pädagogisch-legitimatorischen Jargons begeben.
Sie wissen nicht, was ich meine? Ich zitiere:
'Die Angebote sollen ... Freude am Zusammensein sowie gemeinsamen Tun vermitteln'
Frage: ist es nicht gestattet, einfach Freude dabei zu haben, und fällt uns nichts ein, was am einfachen Freude haben persönlichkeitsfördernd ist?
'Kreativität soll gefördert werden' - Warum wird die Kreativität der Werkstattmitarbeiter nicht einfach genutzt? Bestehen Kreativitätsangebote nicht eher darin, den Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, ihre Kreativität auszudrücken, sie zu leben?
'Der soziale Kontakt soll geübt und gestärkt, ... neue Lernfelder eröffnet werden' dabei geht es doch eher darum, neue Erfahrungen machen zu können und soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen.
Warum diese Pädagogisierung der Wirklichkeit?
Warum wird gefördert, geübt und eröffnet - anstatt zu leben?
Diese realitätsverdoppelnde Sprache widerspricht der inneren Logik persönlichkeitsfördernder, salutogener Prozesse, wie sie - trotz dieser Sätze im Programm - tatsächlich stattfinden: nämlich unmittelbar, in Beziehung, im gemeinsamen Tun.
Ich habe den Verdacht, - obwohl die Forderung nach zusätzlichen Mitteln nicht erhoben ist, meinen die Autoren der Zitate, sie müssten ihre so wertvollen Angebote dem Leistungsträger gegenüber genau so, in der gleichen Weise und Diktion legitimieren wie die anderen Werkstattangebote - und dabei stolpern sie in die Falle des pädagogisierenden legitimatorischen Jargons."