Literaturhinweis in eigener Sache

Sonderwelten und Übergänge

Als „Fachkraft für berufliche Integration“ möchte ich über einige Erfahrungen zu den Anforderungen von beruflichen Alltagswelten berichten und ihre Bedeutung für die Übergänge aus der Werkstatt in „normale“ Firmen zur Diskussion stellen.

Aus der Perspektive der Fachdienste für berufliche Integration (FBI) erscheinen die Werkstätten ebenso wie die Firmen (die von den FBI akquiriert werden) als Sonderwelten. „Sonderwelt“ ist ein Schlüsselbegriff der Werkstattkritik, die immer schriller zu werden scheint.

Die Werkstätten für behinderte Menschen stehen schon seit Jahrzehnten in der Kritik, zunächst vor allem seitens der Fachöffentlichkeit: Ab Ende der 1990er Jahre waren es unter anderem die sozial-psychiatrischen Dienste, die Psychiatriekoordinatoren und vor allem die „Aktion Psychisch Kranke“, die eine Weiterentwicklung der (Reha-)Werkstätten einforderten und dies nachhaltig in den sozial-politischen Diskurs einbrachten. Zu den Forderungen gehörte die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen und die Umwandlung „institutionenzentrierter“ Angebote in „personenzentrierte“: Statt dem Gesamtpaket „Werkstatt“ sollten Leistungspakete auf die Bedürfnisse des Klienten zugeschnitten werden. Mit der „Virtuellen Werkstatt“ und dem Ausbau ausgelagerter Arbeitsgruppen und Einzelarbeitsplätzen wuchs die Vielfalt der Angebote weiter. Der sozialpolitische Streitbegriff der „Institutionenzentrierung“ erwies sich rückblickend als besonders wirksamer Hebel zum Umbau der Werkstätten. Im Namen der „Personenzentrierung“ erleben die Werkstätten nun den größten Bürokratisierungsschub seit ihrer Entstehung, beispielsweise mit der „personenzentrierten integrierten Teilhabeplanung“ (PIT) in Hessen – das neue Verfahren zur Verwaltung von Teilhabeleistungen.

Mit mehr Bürokratie mehr Personenzentrierung zu erreichen? – Auch bei engagiertem Einsatz der Werkstätten wird ihnen das kaum ein Klient oder Angehöriger glauben.

Die Fachöffentlichkeit verwendet den Begriff der „Institution“ weitgehend unreflektiert, beschränkt ihn auf rational gesteuerte Organisation. Die lebensweltliche Komponente fehlt diesem Institutionenbegriff und wird auch bei aller „Personenzentrierung“ vernachlässigt oder glatt übersehen. Institutionen- und Personenzentrierung sind ideologische Begriffe, keine analytischen. Wenn man berufliche Integrationsprozesse verstehen und fördern will, müsste man sich stattdessen mit der beruflichen Alltagswelt von Werkstatt-Klienten (extern und intern) beschäftigen.

Ein relativ neues Phänomen (seit einigen Jahren) ist die öffentliche Werkstattkritik – neu, zumindest was die Ausmaße und die Reichweite veröffentlichter Werkstattbeschimpfungen angeht. Die Kritiker legitimieren sich als Kämpfer für die Interessen behinderter Menschen mit Behinderung. Sie berufen sich auf die UN-BRK oder sie suggerieren fachliche Kompetenz mit der Kritik an der Werkstatt als „Sonderwelt“. Alle Anstrengungen der Personenzentrierung haben die Entwertung der Werkstätten offenbar nicht entschärft.

Beide Konzepte (Institutionenzentrierung und Sonderwelt) transportieren eine Ranküne, eine Geringschätzung. Der Begriff der Sonderwelt wird nun auch von seriösen Kritikern gegen die Werkstätten gewendet, wie z.B. von dem Aktivisten Raul Krauthausen.

 

Mit der Sonderwelt-Kritik ist aber noch gar kein problematischer Sachverhalt bezeichnet!
Im Gegenteil, eine bürokratisch durchorganisierte Einheitswelt wäre eine Horrorvorstellung (etwa die Komplett-Standardisierung aller Arbeitswelten in einem globalen Qualitätsmanagement).
Jeder Betrieb ist eine eigene kleine „Welt“. Unsere privaten Lebenswelten sind Sonderwelten. Menschliche Gestaltungsräume sind Sonderwelten.

 

Ich finde es bezeichnend, dass beide Kritiken – die an der Institutionenzentrierung und die an den Sonderwelten – keine Reflexion über die beruflichen Alltagswelten von Werkstatt-Klienten einschließen. Genau dies könnte ein Beitrag der Fachdienste für berufliche Integration sein.

Die Fachdienste für berufliche Integration sind professionell mit den Übergängen zwischen den beruflichen Welten befasst. Nach meiner Berufserfahrung sind die „technischen“ Aspekte beim Übergang (also das Erlernen und Bewältigen des objektiven materiellen Arbeitsprozesses) vergleichsweise überschaubar. Und in einigen Fällen lassen sich Arrangements für die Eingliederung in den Arbeitsprozess vereinbaren, auch wenn die Klienten erhebliche Beeinträchtigungen mitbringen. Technisch optimierte Arbeitsprozesse sind relativ unabhängig von den „Welten“, in denen sie organisiert werden.

Ganz anders sieht das mit den „Soft-Skills“ aus, die die Werkstatt-Klienten benötigten, um an sozial-integrativen Prozessen in der Alltagswelt „normaler“ Betriebe teilzunehmen. Ich glaube, dass dies ein Kernproblem der beruflichen Inklusion ist, welches auch in der Alltagswelt der Werkstätten bearbeitet werden muss. Aus der Perspektive der Fachdienste für berufliche Integration wird dies m.E. besonders deutlich.

 
Hierzu habe ich einen Fachartikel veröffentlicht, und zwar in der

  • Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik
    Reinhard Saal, Sonderwelten und Übergänge. Anmerkungen zu einem Schlüsselbegriff der Werkstattkritik. Band 118, Juni 2022, Heft 2, pp 350-363; https://doi.org/10.25162/zbw-2022-0014
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